Leitlinien der wissenschaftlichen Arbeit
Der Lehrstuhl vertritt das Römische Recht, die Rechtsvergleichung sowie das gesamte Spektrum des Bürgerlichen Rechts in Forschung und Lehre. Ausgehend von der Beschäftigung mit der historischen Wurzel aller kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, dem Römischen Recht, umfasst die wissenschaftliche Behandlung des geltenden deutschen wie der kontinentaleuropäischen Rechte mehr als nur die Inhalte der jeweiligen Fächer. Gerade die Verknüpfung des auf der Idee der Privatautonomie fundierten romanistischen Ansatzes mit einer rechtsvergleichenden Perspektive versteht das Privatrecht als zeitloses, allgemein menschliches Phänomen, das innerhalb der Gesamtrechtsordnung das fundamentale Instrument zur Befriedigung individueller Interessen und zur Bewältigung sozialer Konflikte darstellt. Dieses individualistische, grundlegende und zugleich universale Verständnis des Privatrechts sowie die Erforschung seiner Gestaltungsmöglichkeiten sind der Schlüssel des rechtstheoretischen und methodologischen Schwerpunkts des Lehrstuhls.
Somit steht der Lehrstuhl in der Tradition des Verständnisses des Rechts als gesamten, auf sozioökonomischen Wechselwirkungen basierten Phänomens (Kunkel, Nörr) und knüpft insoweit an die Arbeit der vorherigen Lehrstuhlinhaber Univ.-Prof. Dr. Günther Jahr und Univ.-Prof. Dr. jur. Dr. phil. Alfons Bürge an, die beide, jeder auf seine Weise, die rechtshistorische und rechtsvergleichende Behandlung des Privatrechts mit modernen wirtschaftsrechtlichen und methodenrechtlichen Fragestellungen verknüpft haben.
Überblick über die wichtigsten Forschungsgebiete
Spannungsverhältnis von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt: Die richterliche Normsetzung im Sinne einer Ersatzgesetzgebung ist spätestens seit der Epoche des Naturrechts kritisch hinterfragt worden und bildet ein wiederkehrendes Objekt der rechtspolitischen Diskussion. Die Spannbreite möglicher Antworten hängt von dem Rahmen ab, innerhalb dessen das Problem erörtert wird und reicht vor dem Hintergrund der auf Montesquieu zurückgehenden Gewaltenteilungslehre von einem Verständnis des Richters als „unpolitischer“, gesetzesvollziehender Akteur bis hin zu der Rolle eines „social engineer“. Gerade der EuGH ist in diesem Zusammenhang häufig Ziel von Kritik geworden, die über die bloße Urteilsbewertung hinausgeht und sich zu einer die Autorität und Legitimität des Gerichts unterminierenden Institutionenkritik formiert. Dabei werden zumeist einzelne, politisch wirkmächtige und bisweilen juristisch umstrittene Urteile in den Fokus genommen. Sollen aber fundierte, methodische Aussagen über nach Einflüssen, Auswirkungen und Wechselwirkungen zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung auf Unionsebene getroffen werden, bedarf es einer großflächigen, systematischen Untersuchung, die über einzelne Entscheidungen weit hinausgeht. Daran anknüpfend untersucht die Lehrstuhlinhaberin, in welchem kausalen Verhältnis die Rechtsprechung des EuGH zur Richtliniensetzung vor allem in den Bereichen des Wirtschaftsrechts steht. Damit fügt sich die Forschung, die nicht nur für den europäischen Integrationsprozess von grundlegender Bedeutung ist, sondern auch Erkenntnisse über das Spannungsverhältnis von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt insgesamt verspricht, in die Arbeit des Instituts für Europäisches Recht, dessen Institutsleitung die Lehrstuhlinhaberin innehat, ein und führt diese fort.
Schenkungsrecht als juristisch-soziales Phänomen: Als stetiges Projekt steht das Schenkungsrecht in Form einer Kommentierung in „dem“ Standard-Kommentar zum Zivilrecht, dem „Staudinger“, im Zentrum der Forschung. Mehr als bei anderen Schuldverträgen ist die Schenkung vor allem auch ein soziales Phänomen, bei dem menschliche Bindungen mehr im Vordergrund stehen als rechtliche. Die Normierung der Schenkung, von der misstrauischen Haltung des römischen Rechts gegenüber unentgeltlichen Zuwendungen, die sich bis heute in den romanischen Ländern fortsetzt, bis zum Umgang mit nichtehelichen Lebensgemeinschaften fordert das Privatrecht in seiner umfassenden Dimension, fördert es aber auch. Die genannte Kommentierung ist mittlerweile in der ersten Auflage (2013) und der zweiten Auflage (2021) erschienen und wird fortgesetzt in der Online-Ausgabe des Staudinger-Kommentars aktualisiert. In diesem Zusammenhang betreut die Lehrstuhlinhaberin eine Dissertation zur vertragsrechtlichen Analyse der (kostenlosen) Bereitstellung digitaler Inhalte und Dienstleistungen. Eine weitere Dissertation nimmt die Vermögensauseinandersetzung außerhalb des Güterrechts bei Beendigung von Lebensgemeinschaften durch Trennung und die hierzu vorgebrachten Reformüberlegungen für das deutsche Recht unter rechtsvergleichenden Gesichtspunkten in den Blick.
Rechtsentwicklung im Ausland: Schon die Personalunion zwischen der Lehrstuhlinhaberin und der Auslandsbeauftragten der Fakultät bedeutet wegen des rechtsvergleichenden Schwerpunkts besondere Synergieeffekte. Neben der Zusammenarbeit in Forschung und Lehre mit führenden Universitäten in Italien (Pavia, Catania, Parma, Neapel), Spanien (Madrid Complutense, Baskenland, Tarragona), Israel (Tel Aviv Bar-Ilan), Russland (Wolshskij) und Japan (kaiserliche Universitäten in Kyushu und Kyoto) wurde ein weiteres Projekt mit der Universität Tbilissi (Georgien) in die Forschungstätigkeit einbezogen. Durch den Austausch von Forschern, Dozenten und Studierenden beider Universitäten soll hier ein Beitrag zur Weiterentwicklung des georgischen Privatrechts geleistet werden. Wegen der Verwurzelung des dortigen Privatrechts in der europäischen und vor allem deutschen Tradition knüpft diese Aufgabe an die rechtshistorische, rechtvergleichende und rechtmethodologische Ausrichtung der Privatrechtsforschung des Lehrstuhls nahtlos an. Aus dieser Verbindung ist bereits eine rechtsvergleichende Dissertation zum georgischen Bereicherungsrecht hervorgegangen. Als Zweige dieses Problemkreises ist die Erforschung von Prozessen der europäischen Ordnungsbildung zu betrachten, die im Zentrum der Forschung der nächsten Jahre stehen wird. Die Untersuchung der Genese des europäischen Rechts unter dem Blickwinkel der umfassenden Dimension des Privatrechts wird durch die Rechtsvergleichung der wichtigsten europäischen Rechtsordnungen auf der Basis ihrer romanistischen Herkunft durchgeführt. Durch die Feststellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden sowie der historischen Gründe soll mittelfristig die Vorlage eines einheitlichen europäischen Zivilrechts erarbeitet werden. Ein ähnliches Projekt, das das langfristige Ziel der Europäisierung des bulgarischen Privatrechts, insbesondere des Vertragsrechts, verfolgt, wurde mit der St.-Kliment-Ohridski-Universität Sofia, in Bulgarien, ins Leben gerufen. Außerdem besteht eine Kooperation mit der staatlichen Universität Craiova, in Rumänien. Die Projekte sind Teil des DAAD-Förderungsprogramms „Partnerschaften mit Hochschulen in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa sowie dem Kaukasus und Zentralasien ‚Ostpartnerschaften‘ – 2021-2023“.
Antike Sklaverei – zwischen Status- und Wirtschaftsrecht: Ein weiterer Schwerpunkt in Forschung und Lehre liegt auf der Erforschung der römischen Sklaverei. Neben einer Vielzahl von Monographien, Einzelaufsätzen und Lexikonartikeln, die im Laufe der letzten Jahre entstanden sind (siehe Schriftenverzeichnis), befindet sich eine Kommentierung der römischen Rechtsquellen betreffend bestimmte Tätigkeiten von Sklaven – servus vicarius –bzw. dessen Status – servus publicus – in der Bearbeitung. Die Kommentierung ist Teil eines sehr umfassenden Projekts der Akademie der Wissenschaften zu Mainz, des „Corpus der römischen Rechtsquellen zur Antiken Sklaverei“, dessen Mitherausgeberin die Lehrstuhlinhaberin ist. Das Phänomen der Sklaverei war mit seinen mannigfaltigen juristischen und sozialen Aspekten Gegenstand mehrerer Seminare. Es handelt sich zunächst um ein statusrechtliches Problem des antiken Personen- beziehungsweise Familienrechts, geht über dieses aber weit hinaus. Wegen der eminent wichtigen wirtschaftlichen Bedeutung der Sklaverei und der Sklaven selbst haben die römischen Juristen vielfältige Mechanismen zur faktischen Überwindung der juristischen Unfreiheit entwickelt. Diese Rechtsinstitute haben zwar im Laufe der Geschichte ihre statusrechtlichen Bezüge verloren, sind aber bis heute aus den europäischen Gesetzbüchern nicht hinweg zu denken – so stellt beispielsweise die GmbH auch „nur“ eine Fortentwicklung eines im Sklavenrecht entwickelten Gedankens der vermögensmäßigen Haftungsbeschränkung dar.
Integration als privatrechtliches Problem: Ein zentrales Betätigungsfeld der innovativen Arbeit der römischen Juristen war das „Ausländerrecht“. Das nur für die Stadt Rom geltende Zivilrecht bedurfte spätestens ab dem Zeitpunkt, zu dem aus dem kleinen Dorf am Tiber ein Weltreich geworden war, der Weiterentwicklung. Die unabdingbare Einbeziehung von Peregrinen in das Wirtschaftsleben einer multiethnischen Gesellschaft und die einheitsstiftende Wirkung des Privatrechts mag man aus heutiger Sicht als beeindruckende Integrationsleistung der römischen Juristen begreifen. Gleichzeitig entstanden hier die wichtigsten Rechtsinstitute des heutigen Vertrags- und Wirtschaftsrechts. Die Erforschung dieser Zusammenhänge sowie der Arbeitsmethode der Juristen als Schöpfer von Rechtsinstituten, die über die Jahrhunderte hinweg alle europäischen Rechtsordnungen geprägt haben, vermittelt letztlich die umfassende Bedeutung des Privatrechts als integratives, ordnungs- und einheitsstiftendes Instrument innerhalb einer Gemeinschaft. Sie dient aber auch der Ausarbeitung von sozialen und juristischen Modellen für unsere immer heterogener werdende Gesellschaft. Dieser Themenbereich ist wiederholt Gegenstand von Aufsätzen (siehe Schriftenverzeichnis) sowie einer methodologisch geprägten Habilitationsschrift zu den Wechselwirkungen von antiker Rhetorik und Jurisprudenz gewesen, die in den Jahren 2008/2009 auch von der DFG gefördert wurde. (Deren Verfasserin wurde inzwischen als Ordinaria nach Zürich berufen). Gegenwärtig ist die Lehrstuhlinhaberin Teil des Forschungsprojekts „The Cambridge History of International Law, Volume 4: International Law in the Middle East and the Mediterranean during Antiquity: Part 2” und widmet sich im Rahmen dessen dem Teilbereich „Dispute settlement in the Greek and Roman world (600 BCE-650 CE)“.